Wörterbuchlyrik

Dass Texte über Erdbeben ein lyrisches Potential besitzen können, habe ich schon an anderer Stelle beschrieben. Damals hat mich ein Japanlologiereferat zur Seismolyrik geführt.
Heute beschäftige ich mich mit Deutsch-Japanischen Wörterbüchern und stoße auf einige Kuriositäten. Neben „Schnedderengtengteng!“ und „einer Leiche folgen“ kann man so einiges zum Schmunzeln finden, auch oft längst vergessene Wörter wie „Beißkohl“ oder „todbang“ sind keine Seltenheit.
Hängengeblieben ist bei mir aber vor allem der Eintrag zu „bleiben“ im SANSYUSYA-Wörterbuch von 1972. Was dort an Beispielsätzen hintereinander steht, ließt sich wie ein Gedicht, quasi Wörterbuchlyrik:

Es bleibt alles, wie es war.
Zwei von sieben bleibt fünf.
Ihm bleibt nur sein Haus.
Wo Bleibt er?
Wo ist er nur geblieben?
Und wo bleibe ich?

Bleiben Sie gesund!

(SANSYUSYA 1972: 173)

Anscheinend ist vieles sicher. Genauso sicher, wie 7-5=2 ist, dass ihm, wer immer auch gemeint ist, nichts außer seinem Haus bleibt. Immerhin, könnte man da sagen, aber ungewiss ist, wo er als Person bleibt, also er ohne sein Haus. Er ist nicht mehr da, wo kann er nur sein? Den Sprecher erinnert es an sich selbst und er stellt auch sein Sein in Frage. Das Gedicht schließt mit einem Rat an den Leser. „Bleiben Sie gesund!“ Hier kann man sehen, was so viele sehen – sei es bei Geburtstagen oder der Unterhaltung auf der Straße: Egal, wo man bleibt, auch ohne Haus und mit der Ungewissheit über Sein oder Nichtsein, Hauptsache gesund!
 

Autor: Stefan

Japanologe, Deutsch-als-Fremdsprachler, Blogger, Schatzsucher. Hobbys sind Lesen, Gucken und Machen.

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