Der Große Stromausfall Von München

München, der 15. November, 6:47 Uhr. Ich mache das Licht aus und verlasse das Haus. Draußen ist es fast noch finster, ich bin froh über die annen Laternen am Wegesrand. Sie weisen mir den Weg und spenden Wärme. Trotz knapper Zeit bleibe ich unter einer stehen und rieche die elektrisch geladene Luft. Ioneninhalation. Mitmenschen sind zu dieser Zeit nur vorbeihuschende Schatten.

6:53 Uhr. In der U-Bahnstation warten ein paar Leute und ich werde einer von ihnen. Die meisten sehe ich jeden Tag. Die Bahn fährt ein und ich sichere mir durch Technik und Talent einen Sitzplatz auf einem „Vierer“, die übrigen drei Plätze sind bereits besetzt.

6:56 Uhr. Die Bahn fährt los und ich ahne, dass es ab jetzt kein zurück mehr gibt. Wir passieren die erste Station. Müde Gesichter, so weit man schaut. U-Bahn of the Dead. Zweite Station, es will niemand zusteigen. Daher auch wohl kein „Zurückbleiben bitte!“, mag aber auch daran liegen, dass wir noch stehen. Dauert lange heute. Zu lange, das hätte mir gleich auffallen müssen. Hätte ich die folgende Katastrophe sonst abwenden können?

7:03 Uhr. Plötzlich ist es dunkel. Die Notbeleuchtung der Bahn ist die einzige Lichtquelle. Eine Frau steht auf, guckt und setzt sich wieder hin.

7:09 Uhr. Zeit vergeht. Ist draußen etwas passiert? Fragende Blicke, keiner weiß, was los ist. Dann endlich die Durchsage vom Fahrer: Stromausfall, geht gleich weiter. Eine Frau steht auf, guckt und setzt sich wieder hin.

7:18 Uhr. Wir warten. Eine neue Durchsage, diesmal aus den Lautsprechern der Bahnstation: Stromausfall in der gesamten Münchner Innenstadt. Ich frage mich, was wohl der Grund dafür ist und komme zu dem Schluss, die Apokalypse nicht in München erleben zu wollen. Eine Frau steht auf, guckt und setzt sich wieder hin.

7:43 Uhr. Man versucht mich auf dem Handy zu erreichen. Mein Netz reicht nur für den Empfang. Auch zuhause ist alles dunkel, meine Freundin kann sich nicht die Haare fönen und muss mit nassen zur Arbeit. Keine Sorge, denke ich, bis du da bist sind sie trocken. Der Bahnsteig füllt sich mit Schulkindern. Eine Frau steht auf, guckt und setzt sich wieder hin.

8:11 Uhr. Gegenüber fährt ein Zug ein. Trotz Stromausfall. Es kann sich nur um eine Halluzination handeln. Oder gibt es den Stromausfall womöglich gar nicht? Ich versuche, an etwas anderes zu denken. Eine Frau steht auf, guckt und setzt sich wieder hin.

8:21 Uhr. Die Notbeleuchtung geht aus. Und kurz darauf wieder an. Die Schulkinder freuen sich. Was für ein Spaß. Eine Frau steht auf, guckt und setzt sich wieder hin.

8:36 Uhr. Und noch mehr Zeit vergeht. Dann ein Knacken in den Lautsprechern. Das Licht wird heller. Endlich die Durchsage: „Zurückbleiben bitte!“ Es gibt wieder Strom. Die Frau bleibt sitzen.

8:58 Uhr. Der Zug wird immer voller, ich bin froh, Am Hauptbahnhof aussteigen zu können. Dort wollen alle raus und noch mehr rein, doch werden letztere nicht gelassen, anscheinend wegen der kritischen Biomasse. Am nächsten Tag wird vom „Strom-Chaos“ berichtet. Damit muss das hier gemeint sein.

9:07 Uhr: Ich erreiche die Oberfläche. Mittlerweile ist es hell, Die Bahnhofsuhr steht auf fünf vor zwölf. Ich muss die Straßenbahn nehmen, ich und alle anderen auch. Wenn ich hier bleibe, werde ich die nie erreichen. Gewitzt wie ich bin, laufe ich zur Endhaltestelle, against the grain, quasi gegen den Strom, man verzeihe mir dieses Wortspiel.

9:28 Uhr. Ich bin endlich am Ziel, was war das für ein Ritt. Ich habe Den Großen Stromausfall Von München überstanden.

Das Gegenteil von Betriebsblindheit

Es war einmal – Einschub: Wir befinden uns im Jubiläumsjahr der Brüder Grimm, denn vor 200 Jahren erschien ihre Märchensammlung zum ersten Mal. So kreative Juristen sah man seitdem selten – , da saß ich als Kind auf einem Möbel und starrte auf die Gardine. Lange, ja für Kindermaßstäbe sogar sehr lange, bis sich etwas schier unglaubliches tat. Die Gardine fing an zu flimmern, ich sah buchstäblich Sterne. Alles, bis auf die Gardine, wurde schwarz. So, als würde man die Augen schließen, also nicht richtig schwarz, sondern so buntschwarz, ja science-fiction-schwarz, so wie man sich einen Weltallstrudel vorstellt.
Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass auch die langweiligsten Dinge (Was ist langweiliger als eine Gardine?) aus der ein oder anderen Perspektive doch interessant sein können.

Das erinnert mich an solche Bilder aus meiner Kindheit, auf denen zunächst nur massenweise Blumen oder Herzen oder so zu sehen sind. Die, die man an die Nase halten und dann langsam immer weiter wegziehen muss, wobei man sich dann immer auf einen Punkt konzentrieren soll und wo dann ein 3D-Bild von einem Nilpferd oder was weiß ich entsteht. Ich weiß es wirklich nicht, den bei mir hat das nie geklappt. Außerdem gab es 3D ja auch noch gar nicht. Das ist ja erst vor kurzem von Hollywood erfunden worden.
Ich habe diese Bilder jedenfalls immer für Humbug gehalten. So wie Platten von Queen, die sich beim rückwärts Abspielen wie Heino vorwärts anhören oder so. Meine Erinnerung an das Gardinenerlebnis lässt mich nun zweifeln, ob an den Bildern nicht vielleicht doch was dran war.

Wenn man zu lange auf etwas starrt, kann es also passieren, dass sich dieses Etwas durch das bloße Anstarren verändert, siehe auch Betriebsblindheit, die. Obwohl, nein, da ändert sich ja gerade gar nichts bei zu langer Beschäftigung mit einer Sache, also vergessen wir das ganz schnell.
Ich sitze beruflich an einer deutschen Vokabelliste mit 600 Wörtern und dazugehörigen Beispielsätzen. Das war eher so Fummelarbeit, was ich ab und an ganz gerne mache, und Lernende, die diese Wörter verstehen müssen haben es da eh schwerer als ich. Trotzdem beschäftigte ich mich damit viel zu lange und erste Gardinenerscheinungen traten ein.

Die Sätze zu den Vokabeln, erschienen einen Sinn zu ergeben. Ich war verschlüsselten Geheimbotschaften auf der Spur. Die vielen kleinen Teile ergaben bei längerer Betrachtung eine eigene Geschichte. Hier die Originalsätze, die in folgender Reihenfolge ein Eigenleben entwickelten:

Ab morgen muss ich arbeiten.
Ich bin oft im Büro, aber nur für wenige Stunden.
Das ist eine schwere Arbeit.
Meine Frau ist gestern gestorben.
Sie können mir glauben, es ist so.
Ist Post da?
Da ist ein Brief für dich ohne Absender.
Können Sie mir seine Adresse sagen?
Er antwortet nicht.
Können Sie mir eine Auskunft geben?
Er gibt leider keine Antwort.
Ich muss meine Schlüssel abgeben.
Was machst du heute Abend?
Darf ich dich besuchen?
Wir treffen uns am Bahnhof.
Vor der Abfahrt rufe ich an.
Ich muss mich noch anziehen.
Heute regnet es.
Hier regnet es viel.
Ich nehme die nächste Bahn.
Ich komme bald.
Zum Bahnhof ist es nicht weit.
Wir haben ein Apartment gemietet.
Wo macht man hier das Licht an?
In unserer Straße gibt es ein neues Lokal.
Hast du etwas zu trinken? Ich habe großen Durst.
Ich nehme ein Bier. Willst du auch eins?
Welchen Wein können Sie mir empfehlen?
Noch ein Bier bitte.
Möchtest du etwas trinken?
Bitte noch ein Glas Wein!
Dieser Wein riecht gut.
Eine Flasche Bier, bitte.
Es ist schon spät, ich muss gehen.
Ich bin müde. Ich gehe schlafen.
Heute Nacht war das Licht an.
Kannst du mir das erklären?
Mach bitte das Licht aus!
Sie ist böse auf mich.
Das Licht ist aus.
Mir ist schlecht!
Mein Arm tut weh.
Mein rechtes Bein tut weh.
Seit gestern tut mir der Bauch weh.
Ich muss zum Arzt gehen.
Morgen habe ich einen Termin bei meiner Ärztin.
Leider kann ich nicht kommen. Ich muss zum Arzt.
Ich gehe jetzt nach Hause.
Die Sonne scheint.
Wir müssen den Schlüssel finden.
Da hinten ist er ja.
Das ist der Schlüssel für die Haustür.
Ich habe die Schlüssel in der Tasche.
Das ist doch schön, nicht?

Das kann doch kein Zufall sein! Das ist erstklassiger Stoff für einen Film Noir! Ich werde mir die Rechte sichern und vielleicht wird ja ein Film Film draus. Die Vokabelliste bzw. das Drehbuch gibt es hier beim Goethe-Institut als PDF.

Die Fummelarbeit hat sich für mich also gelohnt. Auch wenn das hier alles Nonsense ist, hab ich mich dadurch an schöne Bilder und Gardinenflimmereien erinnern können. Ich habe mal gehört, dass der Alltag die spannendsten Geschichten schreiben soll. Das will ich nicht bestätigen, aber ich glaube, ich bin dem Kern dieser Aussage ein Stückchen näher gekommen.

Zurück in LE

Urlaub in Leipzig… Urlaub. In Leipzig. Leipzig. Urlaub.
Ja da ist er, mein erster Urlaub. Die Probezeit in München ist vorbei, das heißt man darf nach drei Monaten offiziell auch mal kurz raus. Und was liegt da näher, als in die Stadt zu fahren, in die ich 2004 gezogen bin und die mich acht Jahre gehalten hat? (Die Berge vielleicht, aber die gehen ja so schnell nicht weg.) Acht Jahre sind für mich eine lange Zeit, also was man da alles schafft, anzufangen und nicht zu beenden, das ist schon einiges. Da studiert man dann, sitzt im Hörsaalgebäude, draußen wird gebohrt, abgerissen und wieder aufgebaut und ehe man sich’s versieht, kann man in der Mensa auf einmal mehr als zwei Gerichte essen (und auch länger als sieben Interimsminuten dafür einplanen) und eine Kirche steht neben einem, in der Mathematik gelehrt werden soll. Verrückt. 
Andere an meiner Stelle würden vielleicht sagen, sie seien in „ihre Stadt“ zurückgekehrt, das Thema hatten wir schon mit der lieben Heimat.  Freunde besuchen ist, was mich herzieht und weniger die Höfe am Brühl („Guck mal, wie weit die schon sind!“), obwohl mich ja schon interessiert, was nach dem ganzen Hickhack um die alte Fassade davon später noch zu sehen ist. Auch die „Und ist’s in München? Teuer, wa?“-Fragen beantworte ich ungern. Vielleicht ist „Ja“ die einfachste und der Erwartungshaltung am ehesten entsprechende Antwort. Ob es die richtige ist, bezweifle ich, auch wenn das genug Schilder bestätigen („Schnitzel mit Pommes 3 Euro“). Kulturvergleiche sind nicht mein Ding, da muss ich mich an harte messbare Fakten halten, um die oft heiß begehrten Unterschiede zwischen München und Leipzig zu finden. Das sind zum Beispiel die Bierpreise, aber selbst da gibt es Ausnahmen. Nicht zu bestreiten ist, dass der Münchner Hauptbahnhof hässlich ist. So hässlich, dass der Leipziger Hauptbahnhof in noch hellerem Glanz erstrahlt als ohnehin schon.
Jetzt mache ich Urlaub und treffe nette Menschen. Mir wurde gesagt, dass ich frisch aussehe und viel positiver bin. Ja sogar entspannter. Das freut mich sehr und nur wegen dieser Lockerheit konnte ich es mir leisten, gestern den ganzen Tag biertrinkend auf einer Parkbank zu verbringen. In vier Monaten kann viel passieren, da muss man aufpassen, das man beim quatschen nichts vergisst. Das hätte man vorher viel öfter machen müssen. Die Lockerheit kommt aber wahrscheinlich auch gerade von meinem Besucherstatus.
Es ist ein komisches Gefühl, Leipzig zu besuchen. Ich mag die Stadt sehr. Sie ist mir irgendwie ans Herz gewachsen. Seltsam nur, dass ich das Straßenbahnnetz schon fast vergessen habe. Ist das ein Zeichen? Erinnere ich mich bald nur noch an das Völkerschlachtdenkmal und das Neue Rathaus? Eine Horrorvorstellung und hoffentlich Quatsch mit Soße. Wenn ich an Leipzig denke, denke ich zu allererst an die Freunde, die hier wohnen und die schöne Zeit, die ich hier hatte und haben werde.